Robin Lindner's profile

Fernmeldung.0010 / nebel




                                                                       1   1  .  1  1  .  2  0  2  0          /                                                  K  u  h  w  e  r  d  e  r      H  a  f  e  n     ,         H  a  m  b  u  r  g     .









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Eines Vormittags lief ich durch die herbstlichen Straßen Hamburgs. Bäume säumten den nassen Asphalt, auf dem sich die herabgefallenen Blätter durch den Regen der vergangenen Tage in eine breiige Masse verwandelt hatten. Fast hatte sie etwas von Schnee, wie sie flächendeckend auf dem Boden lag. Die Luft war gesättigt von kleinen Wasserpartikeln, die weder Sprühregen, noch Frühnebel zuzuordnen waren. Vor mir schob ich eine Sackkarre, die mir der Nachbar Norbert geborgt hatte. Meine Füße steckten in Schuhen, von denen ich wusste, dass sie dem nassen Milieu einige Stunden Widerstand leisten würden. Die Schnürsenkel wurden von weiten blauen Hosenbeinen verdeckt, die den unteren Teil eines Blaumanns bildeten. Meinen Oberkörper schützten zwei Regenjacken und eine Mütze drückte die Wärme auf meinen Kopf.
Mitten im sprühnebeligen Gemisch fühlte ich mich angenehm aufgehoben und glücklich. Die Wassertropfen sammelten sich klein und feucht in meinem Gesicht, auf dem sich ein beharrliches Grinsen abzeichnete.

Ich lief und mit mir lief die Genugtuung, dass nicht etwa Geld oder Materielles das wertvollste Gut darstellen, sondern die Zeit. Eine neue Erkenntnis ist das wahrlich nicht. Und doch ist es für mich ein ums andere Mal ein Unterschied, diese Weisheit in einem Kalenderspruch zu lesen, oder sie tatsächlich zu erleben.
Und so schob ich die Sackkarre über den Bordstein und trottete beharrlich hinterher, als würde sie mich führen. Einmal durch die Stadt, um ein Spielküche, die meine Schwester auf ebay gekauft hatte, abzuholen. Hin und wieder zurück. Mit der Eisenbahn wäre es schneller gegangen. Auch der Omnibus wäre gefahren. Das Fahrrad wäre sogar das schnellste Mittel gewesen. Doch ich schob die Karre, denn ich hatte Zeit.
Und die Zeit war es auch, so stellte ich fest, die es mir gestattete, über sie nachzudenken. Sie lud mich durch ihr reichliches Vorhandensein selbst dazu ein und ich nahm die Einladung an. Mit dem Fahrrad wäre ich der Einladung ebenso wenig gefolgt wie mit der Eisenbahn oder dem Omnibus. Zu abgelenkt wäre ich gewesen, zu sehr auf das Ankommen fixiert. Zu Fuß dagegen hatte ich das Gefühl, der Schnelligkeit der Stadt zu trotzen, sie gar zu bremsen. Fast erschien es als Akt der Revolution, eine Strecke, die man in 20 Minuten zurücklegen konnte, bewusst in über einer Stunde mit den Füßen zurückzulegen. Ich wurde empfänglich für völlig neue Einblicke in die Stadt, die sich mir sonst nicht erschlossen.


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Viele Wochen später erinnere ich mich immer noch oft an den kleinen Protestmarsch. Inzwischen liegt ab und zu eine echte Schneeschicht auf dem Boden, die allerdings nicht den Grund dafür darstellt, dass ich schlittere. Immer öfter komme ich einfach nicht mehr mit. An den Tag der Sackkarre denke ich oft zurück, weil er einzigartig war. Weil sich an allen anderen Tagen die Geschwindigkeit, mit der wir durch unsere Welt rasen, jedes Jahr und jedes Jahrzehnt zu erhöhen scheint. Ich vermute, wir haben längst die Kontrolle verloren. Der diabolische Karussellbetreiber hat einen Backstein aufs Gaspedal gelegt und raucht Kippen hinten im Hof. Und ich hetze und hetze, zwinge mich ab und zu zum Rasten, nur um dann weiter zu hetzen.

Lust dazu verspüre ich nicht, aber wenn alle um einen herum rennen, legt sich beim Spazieren ein seltsames Gefühl auf den Magen. Die anderen sind besser. Produktiver. Erfolgreicher. Es gibt mir das Gefühl, nicht vollends dazu zu gehören, wenn ich im Zirkus nicht mitspiele. Mit diesem Gefühl bin ich sicher nicht allein. Ich könnte mir gar denken, mit diesem Gefühl zur Mehrheit zu gehören. Aber wenn dem so ist: warum hetzen wir dann? Warum fangen wir nicht damit an, uns wenigstens etwas gemächlicher zu bewegen? Wir müssten ja nicht gleich stehen bleiben.

Wir könnten anfangen, unseren eigenen Körper nicht bedingungslos der Arbeit und deren physischen wie psychischen Belastungen unterzuordnen. Statt derer wird die eigene Gesundheit in dick und kursiv ganz oben auf die Agenda gesetzt. Wir könnten den Blick in die Sterne heben und begreifen, dass wir nur eine verdammt winzige Lebensform in einem riesigen Universum sind. Nur leider eine Lebensform, die im Gegensatz zu den anderen Wesen des Planeten verdammt schlecht darin ist, zu überleben. Die viel zu beschäftigt damit ist, sich gegenseitig in Luxus, Ansehen, Materialbergen, Macht und einem Haufen wertvoller Papiere zu überbieten. Ich frage mich in letzter Zeit öfter, warum nicht Bakterien oder Schwämme, die seit Hunderten von Millionen von Jahren ihr Ding durchziehen, die Lampenlicht-Prominenz dieses Planeten sind, sondern ausgerechnet wir. Vielleicht ist es derselbe Grund, aus dem wir der Kollegin nicht den neuen Posten gönnen oder uns krumm buckeln, um mit Trends und Schönheitsidealen Schritt halten zu können.

Wenden wir den Blick statt in die Sterne wieder auf unsere Füße und schaffen es, an unseren einundzwanzigsten Sneakerpaar vorbeizuschauen, sehen wir die unermüdliche Antriebskraft unseres eigenen Verfalls. Der diabolische Karussellbetreiber ist ein armes Schwein, auf den wir nur allzu gerne zeigen, um den Schuldigen zu finden. Wie wir uns Reality-TV anschauen, um uns besser zu fühlen, finden wir in ihm unsere Ablenkung von uns selbst und unserer eigenen Verantwortung. Wie unsere rennenden Füße das Rad am Laufen halten, so ist unser kontinuierliches Schulterzucken die Akzeptanz des Systems.  Doch wie unsere Füße es am Laufen halten, so können unsere Füße es auch verlangsamen.

Man stelle sich dazu nur vor, alle Menschen würden ihr Geld zeitgleich von den Bankkonten der Welt abheben. Was uns daran hindert, ist der Glaube an ein ausbeuterisches System und die eigene Bequemlichkeit, mit der wir wohlwollend immer neuen Konsumtrends aufsitzen und die Mündigkeit durch das Einloggen ins betäubende Paradies der Sozialen Medien und Streamingdienste an der Garderobe abgeben. 

Es geht weder um Verschwörungen, noch um die komplette Umstülpung des Systems. Es geht um einen reflektierten Blick auf unsere Welt, die wir mit unserem Tun und Handeln jeden Tag ein Stück weit mitdrehen, obwohl wir am Gesellschaftsdruck verzweifeln, in den Burnout schlittern, mit kaputtem Rücken in die Rente starten, die Ungerechtigkeit hassen oder Altruismus und Nächstenliebe vermissen. In unserem täglichen Trott neigen wir dazu, zu vergessen, dass es mit einem Umdenken im Kopf beginnt. Und wir tragen allesamt einen auf unseren Schultern.

In außergewöhnlichen Zeiten eröffnen sich unzählige derartiger Erfahrungen. In all den Entbehrungen, welche uns die Krise abverlangt, stecken derart viele Chancen, uns weiterzuentwickeln. Die große Chance, unsere Genügsamkeit, Kreativität oder Besonnenheit zu entdecken oder weiterzuentwickeln. Der Welt die Schnelligkeit zu nehmen. Mal wieder in Ruhe tüfteln, statt wegzuwerfen. Mal wieder doof aus dem Fenster gucken und den Gedanken nachhängen. Nach einem Produkt gebraucht suchen, statt es im Internet zu bestellen, auch wenn man ein halbes Jahr suchen oder 20 Kilometer mit dem Rad zur Abholung fahren muss. Oder einfach mal wieder völlig zeitvergeudend zu Fuß gehen.



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