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Vom Leben in der Stadt (German Writing)

Vom Leben in der Stadt
(Unter Bekannten)
[German Writing]
I have been one acquainted with the night (Robert Frost)
Die Stadt ist nicht groß, aber groß genug um einander kein zweites Mal zu begegnen. Zumindest nicht jenen, bei denen ich es gerne würde. Im Grunde ist die Stadt, in der ich lebe, damit wie das Leben selbst. Sie ist ein Ort, an dem wir aneinander vorübergehen, uns vergessen und niemals wiedersehen. Ein Ort ohne jede Vergangenheit, noch Zukunft. Ein Ort, an dem ich einst glaubte alles sein zu können - und am Ende doch nichts gewesen war.
[2021/07/12]

Alleine in der Stadt bin ich einer von vielen. Still löse ich mich zwischen den Gestalten auf, verliere meine Konturen, werde ebenso beliebig, wie anonym. Wenn mir nur danach wäre, ich könnte wohl nach außen hin sein, wer und wie auch immer ich sein wollte. Würde mich ein anderer doch einmal wahrnehmen, so bin ich sicher, dass ich schon kurz darauf wieder vergessen werde. Auch mir selbst ist es mit denen, die da Tag für Tag scheinbar spurlos an mir vorübergehen, so viele Jahre lang nicht anders ergangen. Hunderte Male musste ich umherwandern, bis mir das erste Mal eine andere Gestalt aufgefallen war, die mir plötzlich, ganz ohne, dass ich hätte sagen können weswegen, vage bekannt schien. Ein Gefühl der Verwunderung beschlich mich und ich begann nun Ausschau zu halten. Es vergingen erneut Wochen, vielleicht sogar Monate, bis ich denjenigen ein weiteres Mal erblickte und mir nun gewiss war, tatsächlich jemandem ein zweites Mal zu begegnen. Wir gingen aneinander vorüber, ich sah auf, suchte nach einem Blick, der, ich weiß nicht, vielleicht ein wortloses Erkennen bedeuten würde, doch ich fand nichts wieder. Man sah mich nicht. Ich wollte noch etwas sagen, auf mich aufmerksam machen, damit wir uns tatsächlich sehen und mein Erkennen endlich einmal auf Gegenseitigkeit beruhen würde, doch schwieg ich stattdessen. Man hatte mich einfach nicht gesehen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass dies mein erster Bekannter in dieser großen Stadt wäre. Es erfüllte mich, wenn nicht Freude, so doch ein wenig Stolz im Inneren. Endlich schien ich angekommen, ein Teil von etwas Größerem geworden zu sein. Ein wenig, als würde ich, vom heutigen Tage an, fest zum Inventar dieser Stadt gehören, könnte mich nun als einer von ihnen zählen. Schließlich weilte ich nun endlich einmal lange genug an ein- und demselben Ort, um andere Menschen zumindest vereinzelt als das wahrzunehmen, was sie waren. Einzelne. Gesichter dieser Stadt. Gesichter, die hier jeden Tag umhergingen und lebten, ganz wie ich das tat. Manchmal aber fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht doch irgendwann einmal gesehen wurde, so wie ich immer andere sah. Von irgendeinem Menschen, der mir einfach nicht aufgefallen war, so wie ich ihnen nie aufgefallen war. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es ihn gegeben hätte, diesen Menschen. Dass er etwas zu mir gesagt hätte. Irgendetwas, nur ein einziges Mal in all den Jahren.

Doch wenn einer fortblieb, nicht mehr von mir gefunden wurde nach einer unbestimmten, mir selbst unbekannten Zeit, die einzig aus meinem Inneren erwuchs und mich fragen ließ, wo er denn ist, in all den Tagen und Straßen, begann ich mir aufrichtig Sorgen zu machen. Ich konnte nicht anders, als zu befürchten, dass ihm etwas passiert sein könnte. Oder, war man vielleicht fortgezogen? Ganz ohne, dass wir uns voneinander hätten verabschieden können? Hatte man mich vergessen? Einfach so, als wäre nie etwas gewesen? Ich blieb alleine zurück, eines Bekannten beraubt. Und er fehlte mir, dieser Fremde, so als wären wir immer gute Freunde gewesen. Ich fühlte mich, so als sei ich damit weniger geworden und hätte etwas von dem, der ich war, an ihn und sein heimliches, nahezu feiges Verschwinden verloren. Vielleicht vermisste ich ihn auch gerade um das, was wir nicht und nie gewesen waren. Wie viele Male hatte ich wohl im Verborgenen still das Wort an ihn gerichtet, ihm, mit der ganzen Sehnsucht und Verzweiflung eines ungelebten Lebens, zahllose meiner Gedanken und Geschichten erzählt.

Jahre später, da lebte ich schon lange Zeit hier, teilte ich tatsächlich einmal ein zweites Mal eine Parkbank mit demselben Menschen. Wir sprachen einige Worte miteinander. Nichts Tiefgründiges, ein wenig über das Wetter, Gott und die Welt. Als ich schließlich aufstand, ihn dort zurückließ und mich auf meinen Weg nach Hause begab, schien es mir, als würde mich dieser Mensch nun besser kennen, als jene, mit denen ich früher einmal tatsächlich durch das Leben gegangen war. Er allein hatte mich als der gesehen, der ich insgeheim immer gewesen war. Einer, der einsam und etwas verloren durch die Stadt und ihre unzähligen Straßen spaziert. Er allein wusste von dem, das ich vor anderen immer geheim gehalten hatte. Und wenn ich heute daran denke, dann glaube ich, dass ich hier in der Stadt einer von vielen bin, statt keiner von wenigen. Ich bin einsam hier. Und ich bin frei. Man kennt und sieht mich nicht, weiß nicht wer ich bin. Ich kann alles sein, und habe doch niemandem, der sich daran erinnern würde. Und ich frage mich, wie lange ist das her, dass ich in das Gesicht eines anderen Menschen geblickt und etwas darin erkannt habe. Wie lange ist das her, dass es nicht einfach nur an mir vorübergezogen und schon kurz darauf auf immer vergessen war. Was hätte ich doch darum gegeben, einmal in Einsamkeit zu blicken, die nicht meine eigene war.

2021/07/20

(Ist das nicht seltsam, wie selten wir einem Menschen ein zweites Mal begegnen?)
Vom Leben in der Stadt (German Writing)
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