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Fernmeldung.0003 / Hamburg

Fernmeldung.0003 /          Hamburg
Seit 4 Monaten bin ich nunmehr in Hamburg. Und was soll ich sagen? Es ist großartig, was zum Teil auch am grandiosen Wetter liegen mag. Bei Temperaturen jenseits der 30-Grad-Marke und Sonne satt erstrahlt fast jeder noch so triste Fleck in üppiger Sommeratmosphäre. Aber darüber sei mal hinweggesehen, ich bin mir sicher, die Hansestadt kann auch im sonst typischen Regen so einiges. Dazu zählen aber eben nicht die lauen Sommernächte, von denen ich seit jeher bei jeder noch so kleinen Gelegenheit zu schwärmen pflege. Mit einer Handbreit Wasser im Gesicht, gehüllt in Regenhose und Regenjacke laut es sich dann doch nicht allzu sehr. Von derartigen Umständen bis jetzt allerdings keine Spur, das regendichte Gewand staubt beschäftigungslos am Türhaken herum, es ist Badehosen-Saison und Tanktop-Zeit, und das die ganze Nacht hindurch. Da fährt man vor lauter Glücksgefühl auf dem Nachhauseweg von der Arbeit mit dem Rad bisweilen schon einmal einen Umweg von zig Kilometern um zur Gunst der Stunde die nächtliche Seite Hamburgs auch abseits der bereits bekannten nächtlichen Anlaufstellen (Reeperbahn, St. Pauli, Schanze, Ottensen) zu erkunden. Ein solcher Umweg ist auch der Grund für das heutige Foto, über das ich bei einer meiner ausschweifenden Fahrradtouren gestolpert bin. Kleiner Tipp: wenn man mal spontan unterwegs ist und abseits der bekannten Wege wandeln möchte, der fixiere einfach ein hohes Gebäude am Horizont und improvisiere sich ohne weitere Hilfsmittel dorthin. Sie werden Gegenden sehen und Wege benutzen, von deren Existenz Sie zuvor noch nicht einmal gewusst haben. Mein optischer Ankerpunkt also dieses Hochhaus, mein Gefährt ein altes Fahrrad meiner Vermieterin, fertig ist die für mich zurzeit beste Freizeitbeschäftigung des Erkundens. Es gibt doch nichts Schöneres, oder? Neue Dinge sehen? Kennenlernen? Nicht jedermann mag das nachvollziehen können, aber für mich ist das im Moment irgendwie zum Lebensmittelpunkt geworden. Erkunden zu Fuß, Erkunden zu Fahrrad, Erkunden zu Skateboard, Erkunden zu Kayak. Manchmal in Begleitung, meistens allein. Das einzig Langweilige an Gesellschaft ist meistens die Tatsache, dass man oft bereits bekannte Ziele ansteuert oder sich zwecks der Konversation nur ungenügend auf die Umgebung einlassen kann. Mir zumindest, dem die Fähigkeit des Multitaskings völlig abgeht, gelingt das nie. Oft sind die Gespräche dann aber auch wieder so gut, dass es gar nicht stört wenn man die Umwelt nur noch schemenhaft wahrnimmt und scheinbar sich automatisch nur von Worten geleitet durch die Gegend spricht. Müsste ich wählen, ich könnte mich zwischen Unterhalten und Erkunden nicht entscheiden. Zum Glück muss ich das nicht und kann getrost eine goldene Mitte aus beidem wählen.

/ Alles neu macht der Herbst

The grass is always greener. Sagte neulich eine Arbeitskollegin aus den Staaten zu mir. Es ging um die Tatsache, dass man, egal wo man gerade so steckt in der Weltgeschichte, auch immer irgendwie gern woanders wäre. Ich zumindest, und ich weiß, ich bin da auf keinsten allein. Habe ich schon erwähnt, dass ich gern erkunde und Neues kennenlerne? Hamburg reizt meinen Entdeckersinn bisweilen ja schon bis zum Äußersten, man denke da nur an die große weite Welt. Nun, da der August bereits gemächlich gen September schlendert, neigt sich meine Zeit im hohen Norden Deutschlands auch dem Ende. Was schade ist, weil ich bei weitem noch nicht alles entdeckt habe. Was schade ist, weil ich nur den Sommer in der Hansestadt genießen durfte, den zwar sehr ausgiebig, aber wenn sich jetzt in unseren neuen Welt der Supersommer und Extremwinter die Bäume bereits im August ihrer Blätter entledigen und erste Vorboten dieser herrlich duftenden Herbstwinde durch die Gegend ziehen, macht das schon sehr viel Lust auf mehr. Einen Ort im Wandel der Jahreszeiten zu sehen ist, also würde der Ort eine permanente Metamorphose durchlaufen, dessen einzige Konstante das starre Häuserskelett unserer Siedlungen und Prachtbauten ist. An denen laufen Winter, Herbst, Sommer und Frühling weitestgehend vorbei. Sonst aber ändert sich alles: die Farben, die Menschen, die Mentalität, das Wetter, die Stimmung, die Gerüche, die Geräusche, das Leben. Hoch oben in meiner Liste: Hamburg im Herbst, Hamburg im Winter. Jetzt ist das ohnehin schon quasi ein Herbst-Beitrag mitten im Sommer, bevor das hier ausartet, lieber ein anderes Thema.

/ Wohin?

Denn das Schöne daran, dass ich mich demnächst wieder klariere und die Anker lichte um sie woanders wieder festzumachen, ist die Gewissheit, dass das Erkunden im neuen Hafen dann wieder auf ein Neues beginnt. Es ist, also würde man eine neue Welt freispielen. Wo neue Dinge beginnen, fängt man allerdings auch wieder an, alles zu hinterfragen, was bis dato als geordnet und selbstverständlich schien. Das Beste an einem Studium, so habe ich erst kürzlich festgestellt, ist weder die viele Freizeit, noch die Leute, noch die Partys. Es ist der Luxus, ein Leben zu führen, in dem man so viele Möglichkeiten besitzt und gleichzeitig die Zahl der Verpflichtungen an die eines 9-to-5-Arbeiters nicht einmal annähernd herankommt, während man trotzdem den eigenen Fortschritt nicht hinterfragt. Solang man studiert, ist in Bezug auf die Zukunft alles gut, es geht schließlich vorwärts im Lebenslauf. Und nun stehe ich da, kurz davor, die Bachelor-Komfortzone zu verlassen und stelle mir all die klassischen Zukunftsfragen. Wohin mit meinem Leben? Wieder zurück in den sorgenfreien Kosmos des Studiums? Erstmal eine Pause? Praktika? Oder sollte ich nicht was für meinen Lebenslauf tun und endlich mal normales Geld verdienen? Letztere führt mich zu dem viel grundlegenderen Punkt, ob Arbeiten tatsächlich der Sinn des Lebens ist. Man könnte es tatsächlich meinen, findet man doch überall wo man hinblickt Paradebeispiele des fleißigen Arbeiters, der die deutsche Wirtschaft brav ankurbelt, ohne dies zu hinterfragen. Karriereleitern werden um die Wette geklettert, mehr und mehr Geld angespart, gewissenhaft am unbeschwerten Ruhestand geschraubt. Klar wäre Deutschland nicht da wo es ist und wir hätten alle nicht dieses Leben in Sicherheit und Luxus, würden alle ein Lotterleben führen. Aber mal ganz nüchtern betrachtet: Wir hatten das unendliche Glück auf einer schwebenden Kugel mitten im Universum zwischen vielen anderen schwebenden Kugeln ein kleines Stück Leben geschenkt zu bekommen. Und als wäre das nicht genug, haben wir obendrein das Privileg, an einem sicheren und möglichkeitsüberladenen Ort leben zu dürfen, wo es so viele Gegenden auf dieser Kugel gibt, in denen das bei Weitem nicht so ist. Statt sich diese Tatsachen einmal vor Augen zu führen sehe ich viel zu viele Menschen in Deutschland, die sich trotzdem darüber beschweren, wie beschissen es hier ist. Wie teuer die Preise, wie mies der Job. Was würden diese Leute tun, würden sie nicht in Mitteleuropa leben, sondern im Südsudan? Was würden diese Leute tun, würden sie hier in Deutschland 1945 leben, in Trümmerstädten, ohne viel Essen, mit toten Freunden?
Worauf ich hinauswill ist eigentlich das: Unsere ganze Lebenssituation ist historisch, örtlich und biologisch schon Glück genug. Das sollten wir sehen und anerkennen und genießen. Wir sollten arbeiten um zu leben, nicht leben um zu arbeiten. Sonst bleibt das Leben irgendwann auf der Strecke. Wenn wir 80 sind wird man sich nicht daran erinnern, wie man 2018 damals etwas für den Lebenslauf getan hat. Schätze ich zumindest. Woran man sich erinnern wird, ist die gute Zeit, in der man damals gelebt hat, in der man getan hat, auf was man Lust hatte und glücklich war. Das schreibe ich so, weil ich es im Moment so sehe, in ein paar Jahren kann das alles wieder anders sein. Ein bisschen Pokern gehört eben dazu. Eine ganze Menge sogar, die sichere Variante ist diese Einstellung zumindest nicht. Also Daumen drücken und glücklich sein. Und hoffen, dass man es nicht bereut.

/ Empfohlen

Zum Abschluss etwas weniger ernstes. Wer sich tatsächlich mit solchen Themen viel befasst, dem lege ich Das Cafe am Rande der Welt: Eine Erzählung über den Sinn des Lebens von John Strelecky ans Herz, in dem relevante Fragen rund um das eigene Dasein unter dem gesellschaftlichem Druck und Erwartungshaltungen auf 128 Seiten in einer stimmungsvollen Geschichte verpackt relativiert werden.

Wer sich auch ohne Anreiz einer literarische Grundlage den Kopf über allerlei Dinge zerbricht, lege ich neben Bier und einer schönen Bank die Notion EP von Tash Sultana auf die Ohren. Zu passenderen Klängen hat man sich wohl selten die Birne kaputtgegrübelt.
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