Zu einem Studiengang, egal welchen Faches, gehört in der Regel auch immer der Erwerb praktischer Erfahrungen. Und was wäre ich als Geograph schon ohne Exkursionen in ferne Länder. Kulturkonfrontation am lebenden Objekt quasi. Mein lebendes Objekt war in diesem Bezug Nepal im vergangenen April und Mai im Rahmen meines Studiums der Kulturgeographie in Erlangen. Die erste Erkenntnis: Das Leben geht auch in Nepal seinen Gang. Bloß tut es das mit vielerorts anderen Arten und Weisen, als wir sie hier im heimeligen Deutschland gewohnt sind. Schwere Gegenstände etwa werden auf dem Kopf getragen. Kühlschränke, Flachbildfernseher, die überdimensionale Kommode oder diverse Baumaterialien finden in den skurrilsten Konstruktionen den Weg über ein Trageband an die Stirn der Nepalesen. Von erwähnten Kühlgeräten gelangen dann viele in die zahlreichen Touristenshops Kathmandus, nicht aber auf die lokalen Märkte, wo sich die Einheimischen täglich mit Lebensmitteln eindecken. Obst und Gemüse wird dort auf umgedrehten Kisten zwischen säckeweise Gewürzen direkt an der unbefestigten Staubstraße verkauft. Der Fisch steht ungekühlt in einer Wanne auf dem Boden, das Fleisch wird auf einem Holztisch feilgeboten, und zwar alles, was das
geschlachtete Tier eben so hergibt. So findet auch ein Ziegenkopf bisweilen einen Platz auf besagtem Ladentisch. Von Kühlkette auch hier keine Spur. In weiser Voraussicht lassen wir die Finger davon, was hinsichtlich des sonstigen kulinarischen Angebots allerdings nicht weiter schlimm ist.
Insgesamt umgibt die Hauptstadt eine lauschig-stressige Atmosphäre, in der man sich sofort wohlfühlt – es sei denn man pflegt eine innige Beziehung mit der Ordnung oder der Sauberkeit. Das Paradoxon lauschig-stressig funktioniert deshalb, da man selbst als Auswärtiger im Gedränge der Stadt – mit Ausnahme der Tourispots – fast komplett untergeht und somit zu einem Teil des furchtbar geschäftigen Treibens der Stadt wird. Ich hätte das „stressig“ ja komplett weggelassen, wäre da nicht die Tatsache, dass man eben doch irgendwie immer auf dem Weg irgendwohin ist, verbunden mit der Absicht, auch irgendwann dort anzukommen. Dabei kann einem das ach-so-schöne Treiben eben auch mal einen, zwei oder fünf Striche durch die Rechnung machen, was dann wiederum Stress bedeutet. Hinzu kommt, dass Kathmandu ein Labyrinth ist. Einmal um den Block, indem man viermal links abbiegt, funktioniert hier einfach nicht. Das Straßennetz der Stadt ist weder orthogonal, noch verlaufen die Straßen gerade. Der Trick ist, es zu nehmen wie es kommt. Als Lohn findet man Hinterhöfe, Tempel, Märkte, die in keinem der hiesigen Reiseführer auftauchen. Sie zeigen das rohe Leben, ohne dass das Ambiente zuvor durch einen touristengerechten Filter gepresst wurde. Als wir irgendwann in einem Häusereingang in einer Tempelanlage vor den ersten Ausläufern des Monsuns Schutz suchen, geht eine Tür hinter uns auf. Es wird freundlich angeboten, sich gerne drinnen unterzustellen. Unser Unterstand entpuppt sich als Schule und wir werden herzlich eingeladen, der derzeitigen Unterrichtsstunde beizuwohnen. Die eine Hälfte tanzt, die andere Hälfte malt. Wir sind uns nicht sicher, welches Fach oder welche Fächerkombination unterrichtet wird, haben aber unglaublich viel Spaß bis der Regen aufhört.
Man hätte bei all der Faszination, die Kathmandu umgibt, leicht vergessen können, dass der Hauptteil der Exkursion die Wanderung durch den Himalaya darstellt. Auf der Anreise zu unserem Startpunkt Syabru Bensi hatten wir dann aber dennoch genug Zeit, uns auf das bevorstehende Trekking und vor allem die uns erwartenden Herausforderungen mental einzustellen. Die Busfahrt erledigt dies in einer eleganten 8-stündigen Intensivlehrstunde, auf der wir circa 120 Kilometer zurücklegen. Wer schon einmal einen Film im Mad-Simulationskino gesehen hat (das sind die Vorstellungen, in denen sich die Sitze passend zur Action im Film bewegen), kann ansatzweise unsere Fahrt nachempfinden, mit dem Unterschied, dass die Kinosessel mit Gurten ausgestattet sind. Es geht für uns strecken- wie körpertechnisch auf und ab, durch Landschaften, die sonst nur auf 3sat oder arte über die Bildschirme in unseren Wohnzimmern flimmern. Durch Felder, die sich gestuft über die steilsten aller Hänge erstrecken. Auf Straßen, die unbefestigt aus ebendiesen herausgeschlagen wurden. Die unzähligen Schlaglöcher, Geröllbrocken, Spülrinnen und Schuttkegel sind Zeugen des immerwährenden Zweikampfes zwischen Berg und Straße, regelmäßig holt sich die Natur Teile der Verkehrsader zurück, bis die Abschnitte meist in Handarbeit mühsam wieder freigeschaufelt werden. Es wird in den engsten Kurven ohne Leitplanken zentimetergenau rangiert, es wird bei vielen Fahrzeugen auf dem Dach gesessen, es wird gehupt, es wird gelacht. Als ein Bus vor uns liegenbleibt, weil die Bremsen Probleme bereiten, wird angehalten und sich gegenseitig geholfen – nicht die beste Gegend für derlei technische Probleme. Sprich: es ist ein Traum für abenteuerbegeisterte Verbündete des Chaos, der leider aber doch mit unserer Ankunft im Bergdorf Syabru Bensi, dem Startpunkt unserer Wanderung, sein Ende findet.
Die Landschaft schließlich auf eigenen Beinen entschleunigt zu erkunden und nicht bei jedem Highlight den Kopf aufs Anspruchsvollste aus dem engen Busfenster recken zu müssen, ist dann aber nochmal um einiges besser. Die körperliche Belastung ist dafür ein lächerlicher Tribut. Außerdem macht die mentale Einstellung auf die bevorstehende Belastung derart viel aus, dass ein unerwarteter Anstieg in den achten Stock bisweilen fast intensiver erscheint, als ein Tagesmarsch mit 1300 Höhenmetern, 15 Kilo Gepäck auf dem Rücken und Ausblicken, die man sich eigentlich Einrahmen und an die Wand hängen sollte. Eine gesunde Portion Schlaf schadet dennoch nicht, wenn jeden Tag drei- bis vierstelle Höhenmeter überwunden werden müssen. Der Haken am Schlafen im Himalaya: man verpasst den Sternenhimmel. Und der ist wirklich jede Sekunde eingebüßten Schlaf wert. Wer es noch nicht wusste: Sterne machen sich unglaublich gut vor einer Kulisse mit schneebedeckten Fünftausendern, vor allem wenn Lichtverschmutzung endlich mal keinen Einflussfaktor darstellt. Als wir dann sehr früh morgens irgendwann im Bergdorf Kyangjin Gompa, unserem Wendepunkt auf der Wanderung, auf 3800 Metern der Sonne dabei zusehen, wie sie langsam um die Hänge kriecht und Meter für Meter die schneeumwehten Gipfel der Berge mit warmen Licht überzieht, wirkt es wie das Natürlichste auf der Welt, dass in der nepalesischen Weltanschauung die Götter auf den Gipfeln des Himalaya beheimatet sind.



Dann geht es wieder abwärts. Zumindest bis wir in das nächsten Seitental einbiegen. Auf unserem Weg zum darin gelegenen heiligen Bergsee Gosaikunda werden wir nachts schließlich von ersten Monsun-Gewittern überrascht, die uns in derartigen Höhenlagen selbstverständlich Schnee bringen. Es ist das wohl Beste, was hätte passieren können. Ohnehin ist die Gegend bekannt für seine spektakulären Rhododendren-Wälder, in Kombination mit einer dicken Schneeschicht wirken die roten Blüten allerdings bisweilen fast unwirklich, als seien sie aus einem Fantasy-Rollenspiel entflohen. Und so wirkt die gesamte Umgebung, an die man sich im Laufe der Route trotz ihrer außergewöhnlichen Schönheit dann doch irgendwann gewöhnt hat, mit einem Mal komplett verändert. Ab hier sind wir Teilnehmer einer ständigen wetterbedingten Metamorphose des Gebirges. Als wir den See erreichen, zieht Nebel auf. Krishna habe hier einst gegen Dämonen gekämpft und sein Blut anschließend im See abgewaschen, heißt es. Ein einzelner kleiner Stein, der in der Mitte des Sees aus dem Wasser ragt, symbolisiert die Gottheit. Die paar Hütten am Ufer, von denen wir in einer untergebracht sind, sind vom anderen Seeufer nur noch schemenhaft zu erkennen, was die mystische Umwobenheit des Sees dramaturgisch passend unterstreicht.
Dann fängt es wieder an zu schneien. Wir wärmen uns am Ofen der Lodge notgedrungen auf, um nicht kalt in die Schlafsäcke zu müssen. Der Ofen ist der einzig warme Gegenstand in der Hütte, alles außerhalb eines 3-Meter-Radius um ihn herum ist kalt, weshalb sich alle Gäste und Bewohner kreisförmig um die Wärmequelle versammeln, Tee trinken, reden und über die Kuriosität der Situation lachen. Mit Schnee haben wohl die wenigsten gerechnet. Am wenigsten Ich, als ich schließlich nachts mit etlichen Flocken im Gesicht in besagtem geschlossenem Raum aufwache. Und da liege ich also auf 4400 Metern im Schneegewitter und etwas Weiß ziert meine Stirn. Ich bin genervt, mir ist ohnehin viel zu kalt. Das hält dann wiederum so lange, bis man sich bewusst wird, wo auf der Welt man gerade liegt und ob es wirklich der richtige Augenblick fürs Genervtsein ist. Da ich
ohnehin nicht schlafen kann, schaue ich nochmal raus und werde Zeuge, wie sich das Gewitter zurückzieht und wieder einmal diesen fantastischen Sternenhimmel freigibt. Um einen herum hört man kein Geräusch, es ist angenehm ungewohnt. Aber wer sollte hier schon lärmen, wo von den paar Menschen hier oben doch fast alle gerade schlafen. Irgendwann läuft mir dann doch jemand über den Weg, ein fuchsähnliches Wesen, ich weiß bis heute nicht was es war.
Als wir am nächsten Morgen aufwachen, liegen etwa zehn Zentimeter Schnee und die Sonne strahlt, als wäre nichts gewesen. Die Freude darüber währt nur kurz, schon nach dem Frühstück kommt die nächste Portion Weiß, ganz zum Leidwesen des Sherpas Tennam, der seine Wanderschuhe in Kathmandu vergessen hat und seitdem den Weg in Sneakers zurücklegt. Wo sich der Mitteleuropäer schon dreimal beide Knöchel gebrochen hätte, lacht er nur und schlittert den Berg bedrohlich nah am parallel verlaufenden Abhang entlang. Was wir in den letzten Tagen erklommen haben, geht es nun in einem Zug wieder runter. In Dhunche wartet ein Bus, der uns wieder nach Kathmandu schleudern soll. Man ist auf jeden Fall deutlich entspannter vor der Rückfahrt. Nicht einmal die Reparaturarbeiten des Fahrers an den Stoßdämpfern, für die er einen Schlaghammer benutzt, bringen den Kurs aus der Ruhe. Sollte die Maßnahme erfolgreich verlaufen sein: ich möchte nicht wissen, wie es ohne Stoßdämpfer gewesen wäre. Ich bin aber davon überzeugt, dass sie nicht funktioniert haben. Und das ist auch gut so, schließlich gibt es nichts besseres, als ein Land auf dem gängigen Komfortlevel der Einheimischen zu bereisen, statt in der extravaganten Touristenklasse. Aus nepalesischer Sicht haben wir den Luxus aber ja ohnehin schon mit unseren knöchelhohen Wanderschuhen abgehakt.

  jjj
Lebensart Nepal
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