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Fernmeldung.0004 / Bologna

Fernmeldung.0005 / Bologna






In Bologna leben wir in einer kleinen Seitenstraße unweit des Zentrums, sofern man ein exaktes Zentrum der Stadt überhaupt ausmachen kann. Man würde es wohl zwangsläufig an den großen Piazza Maggiore setzen, wo zu jeder Tageszeit Menschen flanieren, wo in vergangenen Zeiten der Handel brummte. Mir kommt es allerdings verstärkt so vor, als bilde die Altstadt mit ihrer doch beachtlichen Größe eine Einheit, bei der das Leben nicht nur im Zentrum floriert, sondern bis in die kleinsten Nebengassen der Ecken der Altstadt vordringt, die fast ausschließlich zum Wohnen genutzt werden. Das tut es in Form von kleinen Cafés, kleinen Friseursalons, kleinen Supermärkten, kleinen Bäckern, insgesamt allen Formen von kleinem Gewerbe, und vor allem durch unzählige Treppenabsätze und Balustraden, auf denen man lehnen und schauen, liegen und schlafen oder sitzen und trinken kann. Der Grund für deren Zahlenreichtum liegt in den Arkaden, die Bologna weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht haben und sich in einem knapp 40 Kilometer langen Netz durch alle Ecken der Altstadt erstrecken. Einst hatte man in Bologna das Problem einer stark wachsenden Bevölkerung, für die als Folge Wohnraum geschaffen werden musste. Um die breiten Straßen und ihre Funktion als Handelswege nicht einschränken zu müssen, fing man mit dem Anbau an die Häuser erst im ersten Stock an und ließ darunter einen Durchgang, um weiterhin die volle Breite des Verkehrsweges nutzen zu können. Gleichzeitig bot der Überbau den Händlern bei allerlei Wetterlagen Schutz.
Weit weggekommen von den altertümlichen Funktionen ist man seitdem nicht unbedingt, die Gänge bieten Schatten im Mittag und Trockenheit bei Regen, nur die Händler haben sich hinter die Hausmauern in ihre Läden zurückgezogen. Die Arkaden sind nicht selten leicht erhöht. Ebenjene kleinen Treppenabsätze führen in ein oder zwei Stufen hinauf, ebenjene niedrigen Balustraden grenzen sie zur Straße ab. Und ebendort sitzen, liegen und lehnen die Bolognesen, ein unendliches Angebot an Sitzgelegenheiten. Die Leute laufen in ihren Arkaden, sie frühstücken dort aber auch oder essen zu Mittag. Die Restaurants und Bars stellen ihre Stühle und Tische an einfach an die Ränder der Gänge, wo sie sich auf dem weichen Farben der Marmorfließen harmonisch-gemütlich in die offenen Häusertunnel eingliedern, als würden sie seit jeher dazugehören. Hier sitzen wir jeden Morgen und frühstücken. Un brioche con crema e und cafe zwischen den anderen Frühstückenden, allesamt Italiener. An einem Tisch sitzt der alte Mann, der zu einem authentischen italienischen Café gehört wie der Espresso zum italienischen Morgen.
Bologna ist einzigartig, erklärt uns der junge sakkotragende Mann vom Nebentisch, vor allem des Essens wegen, schlechtes zu bekommen sei hier unmöglich. Er empfiehlt uns Tagliatelle al ragú, wie man ebenjene Speise hier nennt, die außerhalb Italiens besser unter dem Namen Spaghetti Bolognese bekannt ist. Die lange Gerade als Nudelbeilage isst man hier allerdings nicht. Tagliatelle mit ihrem breiten und eleganten Wellen, die den Haaren der Fürstin Lucrezia Borgia nachempfunden sein sollen, sind eine Spezialität, die man allerorts antrifft.
Als wir das Café verlassen, sitzt der alte Mann immer noch, Nur wenige widmen sich dem Essen am Morgen ausführlich, dem Frühstück wird wenig Aufmerksamkeit zuteil. Die Ausnahme allerdings bilden die Älteren, die das Café-Sitzen fast hauptberuflich betreiben. Mit einer Seelenruhe verweilen sie dort, genießen den Kaffee als wäre es ihr letzter, lesen die Zeitung, als hätten sie dies seit Jahren nicht getan oder betrachten die Welt, als sähen sie sie zum ersten Mal. Ich bewundere diese Seelenruhe, mit denen sie der Welt zu begegnen scheinen. Sie sind die Gegenpole zu dem sonstigen Treiben der Altstadt, obwohl es so richtig geschäftig niemals zugeht als wir die Stadt besuchen. Vielleicht liegt es an der Jahreszeit, vielleicht haben die Touristenmassen Italien bereits wieder den Rücken gekehrt. Ich soll später in Florenz noch eines Besseren belehrt werden. Es liegt wohl an Bologna, das glücklicherweise zumindest im September unter dem touristischen Radar zu fliegen scheint.
In ebenjener Wohnung, in der wir zentrumsnah mitten in Bologna leben, kann man das Leben so genießen, wie man es sich im Italien der Träume so vieler Menschen ausgemalt wird. Morgens fällt bereits die Sonne durch die Fensterläden, es dringt der erste Straßenlärm der ein oder anderen Ape nach oben. Blickt man aus dem Fenster, kann man das Alltägliche beobachten wie eine gute Dokumentation im Fernsehen. Das Fenster als Flimmerkasten quasi, man selbst steht mittendrin. Gegenüber bekommt eine Dame eine Haarverlängerung, die Müllabfuhr holt Säcke ab, Menschen machen Besorgungen im kleinen Supermercado gegenüber und zwei Bauarbeiter halten einen Plausch. Alle Szenen umgibt eine angenehme Gemütlichkeit, selbst den doch eher strammen Schritt der Geschäftsleute scheint eine gewisse Lässigkeit zu leiten.
Abends dann, wenn die Straßen und Gassen auch außerhalb der Arkaden nicht mehr im Sonnenschein ertrinken, kommen endgültig alle auf die Straße, um sich dem Leben zu widmen, das den Menschen in Deutschland im Herbst bereits fehlt, das auch in lauen Sommernächten niemals vollends den Weg in die deutschen Städte findet. Wir lassen uns treiben, trinken Wein, spielen Backgammon und essen Tagliatelle al ragú. Wir machen das, was man im Spätseptember daheim oft nicht mehr machen kann, zumindest nicht in T-Shirt und kurzer Hose. Ganz Bologna scheint nun unterwegs zu sein, die Straßen sind mancherorts voller als zur geschäftigsten Tageszeit. Aber welches Geschäft ist in Italien nun einmal wichtiger als das Dolce Vita? Bologna wird zu einem warmen Meer aus Leben-Genießenden, das Stimmengewirr, die Straßenmusiker, die noch von der Tageshitze gewärmten Steine, das Geruchsgewirr aus den zahllosen Restaurants und Bars lässt die Stadt zu Höchstform auflaufen, als hätte man sich noch einmal zum Grande Finale des Tages zusammengefunden. Nur eben, dass es keineswegs final ist. In Bologna wiederholt es sich jeden Tag, dank der Arkaden vielleicht sogar bei schlechtem Wetter. Es wäre interessant, der Stadt einmal im Wandel des Wetters zu begegnen, an Tagen des endlosen Regens oder bei klirrender Kälte Sehen, wie sich die Bolognesen anpassen und wie sich das Leben verändert. Bleibt das pulsierende Allstadtherz mit seinen arterienartigen Arkaden auch dann am Leben? Zuzutrauen wäre es der Stadt, denn sie ist tatsächlich wie keine andere.

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