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Entscheidungen & Privilegien


Entscheidungen    
   und                   
Privilegien 


I want to see the landscape change.

Dieser Satz sorgt regelmäßig für Lachen bei meinen Freunden. Ich verwende ihn wohl scheinbar etwas zu oft in Gesprächen mit Fremden, wenn ich erkläre, warum ich mit dem Zug oder Bus zu einem Ort unterwegs bin, zu dem ich für ein Viertel des Preises und in einem Hundertstel der Zeit auch hätte fliegen können. Dass ich versuche, Fliegen zu vermeiden, begründe ich mittlerweile gar nicht mehr mit Argumenten des Naturschutzes. Ich habe mir mittlerweile diesbezüglich den Ruf des größten Heuchlers erarbeitet, weil ich dann zwar länger mal nicht fliege, aber meine flugintensive Vergangenheit unter den Tisch kehre und für nächstes Jahr überlege, nach Südamerika zu reisen, selbstredet nicht mit dem Zug oder Bus. Um die Doppelmoral zu verstehen, mit denen ich fremden Müll vom Boden aufsammle und für weniger Fleisch plädiere, während ich mir kurz danach eine Dose Energydrink kaufe und mir betrunken Chicken-Nuggets bei McDonald’s reinstopfe, der müsste mal meinen inneren Schweinehund kennenlernen. Der würde mich nämlich ständig in allerlei Sünderecken treiben, würde ich ihm nicht eine Reihe von Vorsätzen aufhalsen, die mich dann in 9 von 10 Fällen von dem vermeintlichen Vergehen abhalten. Oder manchmal in 8 von 10, oder auch mal 6 von 10, aber was solls. Alter, wenn es mich in 0,25 von 10 Fällen davon abhält, etwas Schlechtes zu tun, ist das schon etwas wert. Ich begreife schon, dass selbst der umweltfreundlichste Deutsche im globalen Vergleich durch sein bloßes Teilhaben an der westlichen Gesellschaft im weltweiten Vergleich zu den größten Umweltsündern zählt. Das ist aber auch noch lange kein Grund dafür, im persönlichen Kontext nicht das nach eigenem Ermessen Bestmögliche für den Umweltschutz zu tun. Würde das jeder so machen, würde wohl viel passieren. Schneeball-Effekt undso. In Bezug auf mich wollte ich das nochmal klarstellen, weil ich sicher dem ein oder anderen Mitmenschen oder Mitmenscher oder Mitmenschix auf den Zeiger gehe. Ich versuche eigentlich nur mich selbst zu verbessern, aber schaffe es halt doch nie so wie ich das will.

So. Da wollte ich jetzt zwar eigentlich gar nicht hin, aber das ist auf jeden Fall der Grund, warum ich für den Flugverzicht mittlerweile eher egoistische Gründe angebe: Die Erfahrung, die Veränderungen der Landschaft, der Sprache, der Natur, der Ferne bewusst erleben zu dürfen. Mit dem Flugzeug wird man irgendwie aus dem einen Ort herausgesaugt, durch ein steriles Flughafengewölbe gesteuert und durch einen anderen, ebenso sterilen Flughafenmagen wieder in eine neue Kultur ausgespuckt. Irgendwie wie ein kleines Teilchen in einem riesigen Mechanismus. Batz! Neuer Ort! Palmen! Hitze! Andere Sprache! Finde dich zurecht. Man wird da echt reingeworfen und ich glaube, der Mensch kann eigentlich besser mit langsamer Umgewöhnung. Gibt es eigentlich einen Reise-Burnout? Ich kann es mir gut vorstellen.

Den habe ich zwar nicht, aber ständiges Umherziehen bestimmt gerade schon einen Großteil meines Lebens. Vor ein paar Tagen erst bin ich wieder nach Hamburg gezogen. Hallo Hamburg! Neue WG, neue Leute, neues Umfeld. Als ich dann am ersten Tag den klassischen Grundlagen-Einkauf um die Ecke erledigt habe, ist mir zum ersten mal so richtig aufgefallen, dass ich mich so ein bisschen ausgelaugt fühle bei dem Gedanken, sich schon wieder neu zurechtfinden zu müssen. Ständiges Umziehen und Reisen ist geil, man sieht viel, lernt so viel Interessantes kennen und trägt einen riesigen Rucksack voller Spaß und Freiheit mit sich herum. Aber der Mensch ist eben doch ein Herdentier, das sich nach Zugehörigkeit sehnt und der Umherwandernde muss sich genau das an jedem Ort von neuem erarbeiten. Wie beim Fliegen wird man auch irgendwie in eine neue Welt hineingeworfen, nur dass sich beim Umzug oft nicht nur Natur, Klima und Kultur ändert, sondern auch die sozialen Bindungen auf weitestgehend null gesetzt werden. Hier, verknüpf dich mal neu!

Erst gestern sagte ein Kumpel zu mir, er mache sich irgendwie gerade Gedanken um das langfristige soziale Umfeld. Mit 25 fängt das wohl an mit den Plänen für die Sesshaftigkeit. Wie sieht der lokale Freundeskreis in 5 Jahren aus, wenn jeder gerade auf dem Sprung ist und umherzieht wie gerade der Sinn steht? Ich lerne schnell Leute kennen aber für gefestigte Freundschaften braucht es mehr als nur ein paar Monate in einer Stadt. Ich denke gleichzeitig, dass eine Einbettung in einen gefestigten Freundes- oder Familienkreis ein wesentlicher Faktor dafür ist, ob man sich an einem Ort wohlfühlt. Ein vertrauter Kosmos, in dem ich ich selbst sein kann. Das bringt einen schon mal ins Grübeln. Und packt ein paar Kilo mehr Gewichtigkeit auf anstehende Entscheidungen. Und die stehen bei mir gerade an, in einer langen Reihe, allesamt einen großen Hut tragend mit einem großen Klebestreifen drauf, auf den jemand mit einem Edding “zukunftsweisend” geschmiert hat, sehr unsauber, weil er mit dem Beschriften gar nicht mehr hinterhergekommen ist.

Mir ist das zumindest gerade alles zu viel mit den Entscheidungen. Und zu schnell. Mir ist mein Leben an sich gerade zu schnell. Mir ist unsere Gesellschaft viel zu schnell. Aber ja, vor allem sind mir all diese Entscheidungen zu viel, und zwar überall. Ich fühle mich wie ein Spielball des Konsums, aufgepumpt statt mit Luft mit einem Überangebot an allem. Im Supermarkt stehe ich in der Süßwarenabteilung vor 15 verschiedenen Sorten von Gummibärchen. Diese reihen sich ein neben der Auswahl an Schokoladenarten, die in ihrer Vielfalt und Zahl einem Fußballkader entsprechen. Gleich daneben: Eine Armee von frittierten und gebackenen Kartoffeln, manche in Scheibenform, andere als Dreiecke und manche bilden Türme. Und dazwischen dann noch solche Besonderheiten, die es dann nur in einer Ausführung gibt. Von denen gibt es dann aber auch wieder so viele, dass sie geschlossen wieder auf eine zweistellige Anzahl kommen. Nippon, Dickmanns oder Fritt, das wären zum Beispiel solche Produkte. Und vor diesem Regal stehe ich, es ist ja mal locker 5 Meter lang und hat immerhin 3 Etagen, und denk mir "was?". Was nehme ich? Was soll das? Was macht es für einen Unterschied was ich kaufe? Was, wenn ich das falsche kaufe? Was will ich überhaupt?

Und das ist ja nur die Süßwarenabteilung. Gleich nebenan lauert hinter den Glastüren der Kühlregale das gleiche Szenario schon wieder. Und das ist ja nur der Supermarkt. Man kann sich vorstellen, wie ich mich derzeit bei vielleicht wegweisenden Entscheidungen im Leben fühle. Und in den nicht so wegweisenden genauso. Ich bin schlichtweg im Grundlegenden überfordert mit meiner Welt, die mir dieses Überangebot bietet. Alles Privilegien, das steht fest. Sind Privilegien immer das Richtige? Wenn ich von der Arbeit komme, tauche ich ein in die wundervolle Welt des Privilegs, meine Freizeit frei gestalten zu können. Wenn ich mich genau in diesem Moment umsehe, sehe ich: Ein Skateboard, das ich fahren könnte. Eine Slackline, auf der ich balancieren könnte. Tischtennisschläger, mit denen ich eine Partie spielen könnte. Ein Stapel Zeitschriften, die ich lesen könnte und eigentlich längst gelesen haben wollte. Ein Stapel Bücher, die ich weiterlesen könnte und in denen ich schon längst weitergekommen sein wollte. Ein PC, mit dem ich meine Urlaubsbilder sichten könnte und einen Artikel über meine letzte Reise schreiben könnte und vor allem wollte. Vor mir ein Laptop, mit denen ich die Zahl der Möglichkeiten vertausendfache, indem ich auf den scheinheilig weggedrehten orange-roten Feuerfuchs drücke: Ein Serie schauen, neue Musik finden, ein paar Blogs und Magazine durchstöbern, Facebook checken, mich mal wieder auf Instagram einloggen oder einfach klassischerweise Stunden auf Youtube verschwenden.

Ich mag das, aber ich hasse das auch. Unter anderem, weil die Unendlichkeit der Möglichkeiten unserer privilegierten Generation eben wirklich quasi unendlich ist. Man muss nur das Haus verlassen und wird vor lauter Möglichkeiten erschlagen. Nun bin ich zusätzlich, mal wieder muss man sagen, in einem neuen Umfeld unterwegs. Wenn alles um einen herum neu ist, fällt es oft schwer, man selbst zu sein. Und sich zu verstellen oder zumindest zu versuchen sich gut zu verkaufen koste viel Aufwand, den man oft bewusst gar nicht so wahrnehme, hat mir jetzt eine Kollegin erklärt und nannte das Küchenpsychologie. Ist eben kein an der Physis zehrender Marathon sondern ein inneres Zusammenreißen, das die Psyche laugt. Der Endboss lauert allerdings wiederum in den Entscheidungen des Lebens. Diese elenden Dinger. Was tun mit den 80 Jahren die uns, wenn wir Glück haben, so ganz ungefähr von wasweißichwem zur Verfügung gestellt werden? Ich könnte ja alles werden! Und ich könnte alles überall werden. Also fast überall. Journalist in Hamburg, Geograph in Berlin, Fotograf in Nürnberg, Fensterputzer in Bergamo oder Dachdecker in Tegucigalpa. Ginge schon irgendwie alles, Privilegien undso. Jetzt ersetzt man die Städte noch durch eine Variable X und den Berufe durch eine Variable Y und die Entscheidungen sind ja ganz leicht. Und alle stehen sie bei mir an, mit diesem riesigen Hut mit dem Zukunftsweisend-Klebeband darauf.

Was für mich derzeit leicht klingt, ist einzig und allein die Vorstellung, in einer Kleinstadt zu leben, die Technologisierung einfach mal ein paar Jahrzehnte zurückzudrehen und einfach den Fahrradladen vom Papa weiterführen, weil es eben Sinn macht und irgendwie auch nicht zur Debatte steht. Nur doof, dass ich mich, ohne die Wahrnehmung meiner jetzigen Situation, dann sicher in die Ferne und nach endlosen Möglichkeiten und Privilegien sehnen würde. Was nun also? Wohin? Zurück in die Kleinstadt oder aufs Dorf und Wildhüter oder Förster oder sowas in der Richtung werden? Klingt gut. Aber erstmal noch den Master machen in der Großstadt! Aber welchen? Oder doch was anderes?

Darüber denk ich morgen nach, es ist ja schon wieder nach 8. Ich schaue jetzt erstmal eine Serie und esse Chips, die hab ich vorhin gekauft. Ich kann mich also irgendwie doch entscheiden. Yeah. Und eigentlich wollte ich zu Beginn dieses Worthaufens noch einen Artikel über die UK-und-Irland-Reise schreiben und bin irgendwo falsch in besagte Küchenpsychologie abgebogen und vor dem Regal mit der Selbstreflexion stehen geblieben. War jetzt eine ganze Menge über mich, Entschuldigung. Nächstes Mal geht es endlich mal um was neues, um Reisen und die Ferne. Versprochen. Bis dahin ein schönes Wochenende, eine schöne Woche, einen schönen Monat oder einen schönen Dienstagabend (war jetzt geraten).

Als Abschluss noch ein Buchklassiker garniert mit einem Musiktipp:

Leo Tolstoi: Meistererzählungen. Zwar kein Geheimtipp, unterhält aber durch seine über-ausgeschmückten Beschreibungen auf einer rein lyrischen Ebene auf eine seltsame aber angenehme Weise immer. Besonders, wenn man auf die Verfassungsjahre der einzelnen Geschichten blickt.

Porter Robinson: Virtual Self EP. Experimentierfreudig wie immer vermischt Porter Robinson so einiges, was jemals aus dem EDM-Leierkasten hervorkam. 2000er-Techno, Dubstep, Drum & Bass, Future House sind allesamt dabei. Alles zu einer stimmigen Masse zu vermengen schafft Herr Robinson trotzdem immer wieder. Wer den Kerl nicht kennt, hört sich aber vielleicht erstmal sein Album Worlds an.


Adieu.







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Warum ständig unterwegs sein nicht das Geilste ist.

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