Die Hausparty.
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Er entschloss sich spät dazu, die Jogginghose gegen eine Cordhose zu tauschen, sich die graue Jacke anzuziehen, in die beigen Sneakers zu gleiten und die Zimmertür hinter sich zuzuziehen. Die Einladung zur Party hatte er schon eine Weile lang, aber bis zum jetzigen Zeitpunkt wollte er nie daran teilnehmen, obwohl sie nur ein Stockwerk tiefer stattfand und er, wenn er ganz leise war, trotz der doch recht guten Schalldämpfung des sanierten Altbaus die Bässe aus der Stereoanlage hören konnte. Er hatte sich gar nicht so viele Gedanken gemacht, warum er diesmal überhaupt hinging. Er hatte ein dumpfes Bauchgefühl gehabt, dass sich etwas Grundlegendes ändern würde zu diesem Zeitpunkt der immerwährenden Feiern. Deswegen ging er wohl hin. Hätte ihn jemand gefragt warum, er hätte keine klare Antwort parat gehabt. Aber da war sowieso niemand auf den Fluren seines Stockwerks, der ihn hätte fragen können. Von unten hörte man die Klänge der Feierlichkeiten nun lauter. Er ging die Treppe nach unten, ins Wohnzimmer, wo eine heftige Diskussion im Gange war, es wurde eindringlich geredet und gestikuliert, begleitet von einer eintönigen Technopassage im Hintergrund, der aber niemand mehr Beachtung schenkte. Gerade schien eine etwas ältere Frau ihren großen Auftritt zu haben und sie genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihr von den restlichen Gästen zukam. Ihre Haare waren zu einem strengen Zopf zurückgebunden und ihre braunen Augen wandten sich, gerahmt von den stetig hochgezogenen Augenbrauen, flink von Person zu Person, um alle Zuhörerenden gleichermaßen durch Augenblicke abzuholen. Es schien bei den meisten zu funktionieren und sie schaffte es, durch geschickte Rhetorik, ihr Graue-Maus-Dasein, das sie abseits des Redens an den Tag legte, gut zu kaschieren.

Schreckschraube., sagte ihm jemand ins Ohr. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch immer im Türeingang ziemlich abseits der Menschen stand. Hm? Na, sie ist eine hinterhältige Schreckschraube, manipuliert alle nur. Die Person hatte sich neben ihn in den Türrahmen gestellt und verschränkte gelangweilt die Arme vor der Brust, den Blick unentwegt mit ordentlich Verachtung gewürzt auf die Frau in Grau gerichtet. Sie selbst hatte ein hageres, aufgewecktes Gesicht und kleine Lachfalten zeichneten sich links und rechts ihres schmalen Mundes ab. Um was geht’s denn? Um die Hausparty, wie immer.
Ich bin das erste Mal hier. Die Hagere erhob erstaunt ihr Kinn. Wie jetzt? Ja, ist so. Häh, wohnst du hier oder was? Ja, ein Stock drüber, ganz hinten. Mein Beileid! Sie drückte ihr Mitgefühl auf eine Weise aus, die ihm zeigte, dass sie es seltsamerweise ernst meinte und es sich nicht um einen dieser angeblich lustigen Sprüchen handelte, die man den Gastgebern einer aus dem Ruder gelaufenen Party entgegenwarf, ohne ihn wirklich zu meinen. In Wahrheit war man eigentlich nur froh darüber, nicht an Stelle des oder der Gegenüber zu sein.
Er wollte gerade fragen, wie sie die Aussage meinte, als er durch stark verbrannten Geruch abgelenkt wurde, der sich ihm beißend in die Nase legte. Fxck, was ist das? Er hielt sich die Hand schützend vor  die Nase, bis sich der Geruch nach und nach wieder legte. Die Hagere hatte offensichtlich gewartet, bis er sich wieder aufgerichtet hatte, ehe sie ihm Auskunft gab. Die Küche brennt. Die Unaufgeregtheit, mit der sie die Worte sprach, wollte ihn glauben lassen, es handle sich um einen Scherz. Er hätte es auch für einen Scherz gehalten, aber der Geruch wiederum verriet, dass es sich um ernstgemeinte Worte handelte. WAS? Die Küche brennt, sieh doch nach. Er lies seinen Blick noch für einen Augenblick verwirrt auf dem Gesicht der Hageren ruhen, die sich wieder voller Verachtung in Richtung der grauen Frau gerichtet hatte. Dann stürzte er den verwinkelten Flur hinunter, bog an der Treppe rechts und am Otto Dix-Gemälde wieder links ab und kämpfte sich gegen dichter werdende Rauchschwaden in Richtung der Küche.
Es war nicht mehr viel von ihr zu sehen, die Flammen umgarnten bereits das weiß gestrichene Holz des Türrahmens, dessen Lackierung unter der Hitze knackend aufsprang. Rechts von ihm stand die Tür zum Esszimmer halb offen, es drangen Schreie heraus und er stieß die Tür hektisch auf und rannte hindurch.

Das große Esszimmer erstreckte sich jetzt vor ihm. Zuerst vernahm er die Quelle der Schreie, es war eine Gruppe von 5 Menschen, die schwitzend und mit versengten Klamotten Eimer voll Wasser durch die Anreiche in die Küche schüttenden. Es schien nicht viel zu helfen, der aufopferungsvoll arbeitende Trupp hatte nur 2 Eimer, was weniger ausmachte als die Tatsache, dass der Gartenschlauch, den sie von der Waschkammer im hinteren Teil des Zimmers über den roten Teppichboden bis vor die Wand zur Küche gelegt hatten, nur wenig Wasser lieferte. Es war eher ein Fließen als ein Strahl, mit der das Wasser die Öffnung des Gummis verließ und reichte damit nicht aus, um ihn direkt auf das Feuer halten, nicht einmal wenn man mit dem Daumen die Öffnung veschmälert und dadurch den Wasserdruck erhöht hätte. Wir machen ihn jetzt fertig man!, schrie einer der Feuernotwehr. Das schaffen wir nicht, der macht uns fertig. Die Antwort eines anderen war erschreckend resigniert. Nicht wenn die uns helfen! Ey ihr W!chser, jetzt macht mal was! Helft uns endlich, checkt ihr nicht dass wir hier alle bald abkratzen???

Er stand noch immer an der selben Stelle kurz hinter der Tür und folgte mit den Augen dem Schwall der Wut, um deren Empfänger zu ermitteln. Sein Blick fiel auf drei Menschen, die erstaunlich entspannt auf einer durchgesessenen Couch hingen und fernguckten. Nur der linke der drei blickte als Reaktion kurz rüber, fokussierte seinen Blick aber sofort wieder auf das flimmernde Viereck. Dann hob er ignorant den rechten Arm, an dessen Ende er die Hand zur Faust ballte und nur den Mittelfinger in Richtung Küche abstreckte. Das Feuer schien sie von ihrer Beschäftigung kaum abzulenken, nur der rechte hatte in seiner zusammengesunkenen Haltung Kinn und Nase tief im Kragen seines Fleece-Pullovers vergraben, um dem Brandgeruch zu entgehen.

Ey, du! Eine von den Leuten bei der Durchreiche kam herüber, als er gerade zu den Fernsehenden gaffte und das Muster des Fleece-Pullis fokussierte. Nicht, dass es ihn interessiert hätte, er stand einfach nur da und begaffte die drei am Sofa und den Stoff, weil er es nicht schaffte, alles einzuordnen, nicht wusste, wohin mit seinen Gedanken. Warum verhielten sich alle so seltsam? Weshalb half niemand beim Löschen des Feuers? Warum wussten die anderen nicht, dass es brannte? Er musste ihnen Bescheid sagen!
Ohne auf die Worte der Frau, die ihn eben angesprochen hatte, zu hören, machte er kehrt und stürzte zurück zur Party. Die Tür war geschlossen worden und die graue Frau, die zuvor noch Reden geschwungen hatte, saß an einem der mit verschüttetem Alkohol verklebten Tische. Sie stützte beide Ellenbogen auf die Platte und hielt ein Taschentuch auf eine blutende Stelle auf ihrer Stirn. Dabei tupfte sie unaufhörlich darauf rum und sah alle 5 Sekunden nach, ob noch Blut aus der Wunde strömte. Sie hatte sich wieder zu einer unscheinbaren Person gewandelt. Statt ihr schrien nun 3 stämmige Kerle herum, die einen offensichtlich stark Betrunkenen in der Mangel hatten, aber vom Publikum deutlich mehr Gegenwind bekamen als zuvor die graue Frau. Lediglich die Musik floss genauso monoton im Hintergrund vor sich hin wie zuvor. Die Diskussion war diesmal deutlich hitziger und ihr Zentrum stellt der Betrunkene dar, auf den zur Untermalung bei vielen Einwänden mit dem Finger gezeigt wurde. Augenscheinlich ging es darum, ihn von der Party zu verweisen.

Na, die Küche gelöscht? Die Hagere stand plötzlich wieder neben ihm, ihre Laune schien sich in der Zwischenzeit gebessert zu haben. Instinktiv packte er sie bei beiden Schultern und schüttelte sie, wobei er merkte, wie sehr er unter der Anspannung der Situation schwitzte, da seine linke Hand von ihrer nackten Schulter abglitt.
VERDAMMTE SCHE!SSE! WIR MÜSSEN DRÜBEN HELFEN!! Seine Stimme war von Panik durchsetzt und schrill, sodass sich auch einige der anderen Leute nach ihr umdrehten. Er bemerkte ihre Blicke und nutzte die Gelegenheit, ließ die Schultern der Hageren los und wandte sich an die übrigen und schrie. Er schrie, dass es brenne, er schrie, sie müssen helfen, er schrie, alle sollen rüber in die Küche, er schrie aus halbniedergekämpfter Panik heraus und er schrie wenig überzeugend.
HALT DEINE FRESSE!!! Einer der 3 breiten Typen brüllte ihn aus der Entfernung an und begann, sich auf ihn zuzubewegen. Doch er schrie weiter vom Feuer wie ein verzweifelter Marktschreier, der versuchte, faules Obst zu verkaufen, doch seine Stimme war mehr zu einem kehligen Jaulen verkommen. Der Schlag traf ihn hart und unerwartet, der Breite hatte nicht erst diskutiert, sondern ihm sofort in die Fresse geschlagen, sodass er benommen hintenüberkippte und mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. Das Gesicht des Breiten war nun dicht vor seinem, der Kerl hatte sich extra die Mühe gemacht, in die Hocke zu gehen, um die Einlage für die anderen Zuschauer dramatischer und für seinen Gegenüber einprägsamer zu gestalten. Wir haben hier andere Probleme, die scheiß Küche interessiert uns nicht. Es folgten Drohworte und die unmissverständliche Aufforderung zu gehen. Der Breite beendete seine Einlage, die alle gespannt beobachtet hatten, und nahm sich wieder dem Betrunkenen an.

Die Wohnzimmertür wartete wie ein geöffnetes Maul links von ihm. Wie ein Portal zwischen zwei Welten, zwischen Party und allem jenseits davon, getrennt durch einen Durchgang, verbunden durch nichts und alles zugleich. Die Hagere half ihm auf und ging mit ihm zu den Treppen, die in die untere Etage hinabführten, und setzte sich mit ihm auf die oberste Stufe. Spiel nicht den Helden.

Was passierte hier? Er versuchte einen logischen Zugang zu dem Thema zu finden, doch so sehr er auch suchte, er fand keinen. Was passiert hier?, fragte er. Alles wie immer. Ich versteh nicht. Warum ist es allen sche!ßegal, dass es brennt?

Ist es nicht. Es kümmern sich Leute darum, nur sind es zu wenige. Dem Rest ist es egal, weil die Party viele Zimmer weiter ist. Die wollen nur feiern. Gerade geht’s ein bisschen ab, es kamen ein paar Leute von unten hoch auf die Party, auch dieser Besoffski, den die drei Arschlöcher gepackt haben. Eigentlich ist das eine geschlossene Party, nur für Leute die hier wohnen oder die wir kennen oder die eingeladen sind. Deswegen sollen hier auch keine anderen rein. Und deswegen haben der Besoffski und die anderen von unten jetzt die Arschkarte und werden wohl rausgekickt. Die sind da unten eh voll am Abkratzen und können sich das Leben nur noch schön saufen, die Wohnung von denen ist schon völlig hinüber. Echt nicht schön.

Die Tür zum Wohnzimmer, die seit ihrem Verlassen wieder jemand geschlossen hatte, ging auf und die Technoklänge drangen heraus, die Linie war härter geworden und die Bässe etwas schneller. Der Besoffski wurde herausbugsiert und auf den Treppenabgang verwiesen. Die Hagere stand auf, um den Betrunkenen passieren zu lassen. Ans Geländer gekrallt begann er etwas ungeschickt und viel zu langsam Stufe für Stufe die Treppe hinabzusteigen.

Aber zusammen können wir den Brand doch löschen! Er war immer noch benommen von den Schmerzen im Gesicht und Hinterkopf, die ihn mit jedem Pochen die hoffnungsvolle Illusion nahmen, es handele sich nur um einen schlechten Traum.

Könnten wir. Aber die meisten hier wollen nur feiern und sich mit dem beschäftigen, was vor ihrer Nase stattfindet. Und dann ist die Party wichtiger, als die Probleme in der Küche. Auch wenn sie irgendwann zu den eigenen werden könnten. Und deswegen zählt Party. Oder was wir trinken. Oder wen wir hier reinlassen. Oder welche Musik gespielt wird. Und dann wird darüber diskutiert, weil es wichtig erscheint, es ist eine angenehme Blase mit angenehmen Problemen und alles von außerhalb der Blase könnte sie zum Platzen bringen. Das wollen die Leute hier nicht.

Und du?

Ich will feiern, deswegen bin ich hier und warte drauf, dass die Diskussionen aufhören und wieder getanzt wird, das nervt alles. Aber nicht dass du mich falsch verstehst: Euer Gebäude ist zwar abgefuckt, aber die Partys hier sind der Hammer.

Du checkst das alles, aber tust trotzdem, als wäre nichts? Er fand, sie könne sich unmöglich trotz ihrer trockenen Analyse von der Lage abschotten.

Ich tu nicht so als wäre nichts, aber ich wohne auch nicht hier. Das ist irgendwie euer Bier. Verstehst du? Ein entschuldigendes Grinsen legte sich über ihren Mund als würde sie mit dem Gesicht ein Schulterzucken auszudrücken versuchen.

Nein, wie kannst du.. ich meine..

Egal, ich geh jetzt mal wieder rein, ich glaub die haben sich eingekriegt. Vielleicht steigt das Ding nächstes Mal ja in deinem Stock, dann check ich mal vorbei!

VERDAMMT NOCHMAL DAS HAUS BRENNT AB! Die Wut kam in ihm empor wie Lava in einem sprudelnden Vulkan, er schlug sich bei jeder Silbe mit den Handflächen stark auf die Oberschenkel als er die Worte schrie. Die Abgeklärtheit der Hageren kühlte den Wuterguss allerdings mühelos ab, indem sie sachlich fortfuhr ohne auf seine Emotionen einzugehen.

Hast du das Otto Dix-Gemälde im Flur gesehen? Ist ein Original. Das ist was wert und gehört den Vermietern, die wohnen irgendwo ganz oben. Das lassen die nicht einfach so verbrennen, bis dahin sagt sicher jemand Bescheid und dann wird das schon irgendwie gelöscht. Machs guuhut!
Sie drehte sich um und ging.

So saß er da. Und saß. und saß. Er roch, dass der Rauch näher kam und war trotzdem wie gelähmt. Wie erschlagen von allem. Er saß noch ein bisschen und als er aufstand sah er, wie die Hagere mit einer Flasche im Türrahmen lehnte und ihn anblickte. Er hatte keine Ahnung, wann sie zurückgekommen war und wie lange sie schon da stand. Damit geht’s immer besser. Sie lachte ein Lächeln, das unter fast allen Umständen außer dem diesen wunderschön gewesen wäre. Jetzt war es gruselig, nichts weiter. Er griff die Flasche, in der sich noch ein Viertel klare Flüssigkeit befand und fühlte an der Temperatur, dass sie eben erst aus dem Eisfach genommen wurde. Mach die verdammte Tür zu, der Rauch zieht rein!, schrie einer der Gäste von drinnen. Die Hagere zwinkerte und formte den Mund zur Kussform, dann schloss sie die Tür von innen.

Er ging. Auf halbem Weg den Flur entlang sah er die Fernsehenden gerade die Treppe in die höheren Etagen hinaufsteigen. Als er den Treppenabsatz erreichte, fiel sein Blick auf das Otto Dix-Bild an der Wand und er erkannte, dass die linke Rahmenseite flackernd hell vom Ende des Ganges beleuchtet wurde. Aus den trockenen Tiefen seiner Kehle zog er den Rotz zusammen und spuckte ihn in Richtung des posierenden Mädchens auf dem Gemälde, verfehlte sie aber um ein gutes Stück. Dann stieg er die Treppe hinauf, hinein in sein Zimmer. Er schälte sich aus der Cordhose und warf die jetzt schmutzige Jacke in die Ecke. Die Flasche stellte er neben sein Bett, nur für den Fall. Dann fiel er in die Kissen und schloss die Augen. Jetzt war alles ruhig, nur die Bässe der Stereoanlage konnte er ganz leise von unten hören. Das konnte auch die recht gute Schalldämpfung des sanierten Altbaus nicht kompensieren.

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Die Hausparty
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Die Hausparty

Die Geschichte einer Hausparty (als Sinnbild der [polit.] Welt)

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